Hängende Klänge
von Sabine Schmidt

1.

Jeder kennt es: Musik im Kopf. Ein Ohrwurm, eine nostalgische Erinnerung, Symbol für einen Lebensabschnitt, das sich im Gedächtnis eingebrannt hat. Auch der Anblick von Objekten, die mit Klang assoziiert sind, Instrumente, Noten, Abspielgeräte, eine leere Tanzfläche oder eine Konzertbühne, sie wecken in uns Gedanken an das, was mit oder auf ihnen gemacht wird: Musik.

Wie viel Musik haben wir im Kopf gespeichert? Wie lässt sie sich abrufen, und was passiert im Kopf, wenn wir sie abrufen? Wie viel fügen wir dann mit unserer Fantasie hinzu, was fällt weg, da ja real nichts erklingt? Die Frage, ob Musik überhaupt klingen muß, formulierte 1967 der Fluxuskünstler George Brecht, ehemaliger Cage-Schüler an der New Yorker School for Social Research: „Ich glaube, wir wissen heute noch nicht, ob Musik Klang haben muß – ob Musik notwendigerweise Klang in sich schließt, oder ob nicht. Und wenn sie es nicht tut, ist eine mögliche Richtung der Forschung zu sehen, was sie sein könnte. Was wir haben, ist Musik-Forschung umgewandelt in Objekt-Forschung. Was das ergibt, ist etwas, das jeder für sich selbst entscheiden muß.“[1] Bereits zehn Jahre vor dieser Aussage begann Brecht, Musik in ihren sozialen, aufführungspraktischen und historischen Kontexten zu ergründen und daraus „Events“ zu kondensieren, die durchaus aufführbar sind, wenngleich sie auch in der Imagination bestehen können und vornehmlich Denkarbeit evozieren wollen.

Seine Symphonie von 1962 besteht einzig aus einem mit dem Aufdruck „Symphonie“ versehenen Kartonkärtchen, in dessen Mitte ein Loch gestanzt ist. Mehr Informationen erhält der Betrachter/Leser nicht, das auf Klang ausgerichtete Außen- wie Innenohr erhält keine konkreten, objektivierbaren Signale; es ist Musik vielmehr in ihrer optischen, sprachlichen und assoziativen Dimension. Ein Ereignis, das sich akustisch allein im kognitiv-emotionalen, im memorierenden wie eventuell visionären inneren Ohr des einzelnen abspielt. Andere Fluxusartisten betätigten sich Anfang der Sechziger Jahre ebenfalls in diesem Genre, Nam June Paik, Yoko Ono, Dick Higgins und weitere, oder Dieter Schnebel, der 1969 das Lese- und Bilderbuch MO-NO für „den lesenden Hörer (den hörenden Leser)“[2] veröffentlichte, bestehend aus Handlungsanweisungen, Bildern, (Notations-)Graphiken, Zitaten aus der Musik- und Literaturgeschichte, Zeitungsausschnitten u.v.m. Erwin Schulhoffs III. Satz seiner Fünf Pittoresken für Klavier von 1919, der In futurum heißt, bestehend allein aus dem graphischen Notationsspiel mit Pausenzeichen (von 64tel-Werten bis hin zu einer erfundenen „Marschall-Pause“), ist mit der Aufführungsanweisung versehen: „Zeitmaß – zeitlos“.

Die Möglichkeiten des autonomen Vor- und Zurück in der Lektüre oder des beliebigen Verweilens an einer Stelle gibt es in der Musik eigentlich nicht. Sie ist eine „flüchtige Kunst“, „time-based media“, unerbittlich läuft sie ab. „Musik im Kopf“ hingegen ist eine Mitspiel-, Mitmach-Musik, die den Betrachter/Leser zum Hören und auch zum Denken aktiviert, zum Hören in sich selbst hinein und – so jedenfalls in Schnebels MO-NO – zum Hören gerade geschehener Klänge: „Lauschen Sie!“ heißt da eine Anweisung. Und eine andere lautet: „Achten Sie auf das, was von draußen hereintönt!“ Solche bewußt formulierte Musik zum Lesen passiert nur im Ich, und für ein einzelnes Ich, das überdies keine spezielle musikalische Ausbildung benötigt, um das Offerierte handhaben zu können. „Musik-im-Kopf“ ist wohl auch aus der pädagogischen Motivation heraus entstanden, eine Musik für jede(n) zu kreieren. Eine Musik, die auch den musikalischen Laien am Prozess des Musikmachens durch aktiviertes Hören und Reflektieren des eigenen Tuns teilhaben lassen will. Andererseits artikuliert sie das Nicht-Mehr-Sagbare, jedenfalls das nicht mehr via Klänge und konkrete Musikkontexte Sagbare. Allein des Einzelnen Kopf, sein Denken und Fühlen soll der Konzertsaal sein; er soll in seiner jeweiligen individuellen Zugehörigkeit und Situation die angebotenen Konzeptionen imaginieren und – sofern er will – weiterdenken, in seiner Eigenzeit, im Eigenraum, im selbstständigen Tun, im Ich (für das jeweilige mich). Solche ästhetisch geforderte Intimität – „Musik-im-Kopf“ ist anders als durch das maximal Private nicht zu realisieren – steht quer zum gängigen Musikbetrieb mit all seinen Konventionen. Sie ist bewußt nicht kollektiv konzipiert, was real erklingende Musik in wohl allen ihren Spielarten ist, denn diese ist nahezu ausschließlich auf zumindest potenzielle öffentliche Aufführungen hin komponiert. „Musik-im-Kopf“ ist pure Individualmusik, sie bietet sich lediglich als Konzept und Idee an, sie verweigert sich dem – wie unterschiedlich diese auch ausfallen mögen – Resultat der Interpretationen durch andere. Hier zählt nur das Selbst, der sich allein vor und für sich selbst verantwortliche Interpret, der keine Kontrolle, keinen Kritiker, kein Publikum, auch nicht des Komponisten oder des Klavierlehrer Korrekturen zu fürchten braucht. Selbst die eigene Imagination muß ihn nicht schrecken, ebenso wenig das eigene Tun.

2.

Kommen wir zurück zur eingangs gestellten Frage: Wie lässt sich der musikimaginative Fundus von Menschen aktivieren, ohne eine reale Musik erklingen zu lassen, die sogleich ihre eigene Präsenz einnimmt? Es sind künstlerische Strategien, die die Begleitmedien nutzen, welche Musik immer auch hat: Sprache, Instrumente, Noten. Die in den 1960ern aufgekommenen Textpartituren sind verbale Anweisungen, mal schillernd-poetisch („Spiele einen Ton, mit der Gewissheit, dass du beliebig viel Zeit und Raum hast“, Karlheinz Stockhausen), mal obszön („Klaviertaste mit steifem Penis anschlagen“, Nam June Paik) oder sind schlichtweg irreal („Dringe in den Ton eines anderen“ Stockhausen). Christian Marclay hat unspielbare Instrumente konstruiert, ein Drumset, dessen Trommeln vier Meter hoch hängen, eine Gummigitarre, die zwar mannigfaltig verformbar, der aber gewiss kein Akkord oder Riff zu entlocken ist – diese unmöglichen Instrumente sollen gar nicht gespielt werden, sondern ihre inhärente mutmaßliche Musik soll sich in der Fantasie des Betrachters abspielen, so wie ein kubistisches Gemälde die tiefere Wahrheit eines Sujets zum Ausdruck bringt.

Neben Sprache und Instrumenten ist ein bedeutender nicht-klingender Aspekt von Musik ihre Notation. Bevor Schallplatte, CD und Mp3 erfunden wurden, dienten Noten der Speicherung von Musik, und solange sie nicht nur technisch reproduziert, sondern von Musikern live gespielt wird, sind Noten die probate Form der schriftlichen Memorierung und Weitergabe von Musik.

Bereits im ausgehenden Mittelalter wurden Noten aber nicht nur als Speicher- und Übertragungsmedium von Musik gehandhabt, sondern es wurde auch ihre eigene Visualität gesehen. Um 1400 finden sich figurale Notenschriften, bei denen die Notenlinien in Kreis- oder Kreuzform angeordnet sind und die neben ihrem dekorativen Charakter oft auch musikalisch die Form eines kreisförmig-geschlossenen Kanons haben. Das schönste Beispiel ist ein in Herzform geschriebenes Musikstück von Baude Cordier, das passenderweise ein Liebeslied ist. Auch bei den franco-flämischen Komponisten der Renaissance findet sich „Augenmusik“: Die Lamentatio auf den Tod des Komponisten Ockeghem, Nymphes des bois, geschrieben von seinem berühmten Schüler Josquin Desprez, sowie die Motette Absolve, quaesumus, domine, die für den verstorbenen Lehrer Jacob Obrecht komponiert wurde, und das ebenfalls Josquin zugeschriebene Proch dolor sind uns ausschließlich in schwarzer Notation überliefert. Die Farbe schwarz bezieht sich auf eine Wirklichkeit außerhalb des Textes: Ohne dass das Wort schwarz im Text enthalten ist, wird im Kontext des christlichen Glaubenverständnisses die schwarze Farbe mit dem Begriff Tod identifiziert.

Auch in der Barockzeit gibt es prominente Beispiele für visuelle Intentionen bei der musikalischen Niederschrift, unter anderem von Johann Sebastian Bach und Georg Philipp Telemann. Die Kreuzvorzeichen, die Bach beinahe immer stereotypisch verwendet, sobald im Text das Wort „Kreuz“ auftaucht, sind ein Beispiel für Augenmusik im Generalbasszeitalter. Im 19. Jahrhundert dann gibt es häufiger Zeichnungen auf Notenpapier, wie Moritz von Schwinds seinerzeit bekannte Katzensymphonie. Die Partitur hat sich zu diesem Zeitpunkt schon als Text verselbstständigt und steht unabhängig von der Aufführung des Werkes als autonome, zeitunabhängige Form zur Verfügung.

Endgültig zur speziellen Kunstform entwickelt sich die Notation dann in der New York School of Composers (John Cage, Morton Feldman, Earle Brown, Christian Wolff) seit den 1950ern. Ausgangspunkt war zunächst die Idee der Unbestimmtheit (Indetermination), durch die der Komponist dem Interpreten Entscheidungsfreiheit lässt. Morton Feldmans Komposition Projection 1 (1950) in graph (paper) notation ist indeterminiert bezüglich ihrer Tonhöhen. Allerdings gibt Feldman drei verschiedene Register vor und damit einen Rahmen, innerhalb dessen der Interpret die Tonhöhen wählen muss. Indeterminiert ist auch das Aufführungsmaterial von John Cages Cartridge Music (1960) und einigen Kompositionen aus der Variations-Reihe (1958–1967), das aus verschiedenen bedruckten Folien besteht, die der Interpret für jede Aufführung neu übereinanderlegt und nach Cages Anweisungen interpretiert. Dabei geben die abgelesenen Werte oft Aktionen und keine klanglichen Resultate an. Im Concert for Piano and Orchestra (1958) stellt Cage für den Klaviersolopart ein Kompendium verschiedener Notationen zusammen.

Als erste musikalische Grafik (graphic music) gilt Earle Browns December 1952 aus der Serie Folio. Instrumentation, Tonhöhen und Rhythmus sind hier ebenso wie die Leserichtung und Drehung des Blattes unbestimmt. Der an Jazz-Musik interessierte Komponist Brown wollte mit solchen Grafiken Anregungen für improvisierende Interpreten geben.Während Brown mit der spontanen Umsetzung eines bildlichen Eindrucks auf eine Improvisation zielte, vermieden Feldman und Cage den Begriff Improvisation und verlangten eine detaillierte Ausarbeitung und Planung der jeweiligen Aufführung.

Zum einen kann die Entwicklung grafischer Notation als Indikator für Veränderungen in der Musik verstanden werden, wobei vor allem kontinuierliche Klangprozesse einen zunehmend größeren Stellenwert in der zeitgenössischen Kompositionspraxis einnehmen. Mithilfe grafischer Notationszeichen sind diese kontinuierlichen Klangbewegungen nun fixierbar, während die herkömmliche Notenschrift lediglich diskret Tonhöhen und -dauern symbolisiert.

Mit der Auflösung der diskreten Notation geht zum anderen auch die Preisgabe des Werkbegriffs einher, weil die häufig mehrdeutigen und offen verwendeten grafischen Formen die Kriterien für Geschlossenheit nicht mehr erfüllen.

Dem folgten zwei weitere Schritte: Zuerst die Uminterpretierung jener grafisch angelegten Kompositionen zu visuell selbständigen Werken – Cage ließ die Stücke nicht nur einfach spielen, sondern hängte ihre Notenblätter auch an die Wände des Konzertsaals, zum besseren Verständnis, schließlich auch als eigene, installative Ästhetik –, daraufhin begannen Komponisten und Künstler als Folgeschritt, Partituren von vornherein als allein visuelle Arbeiten zu entwerfen, ohne dass eine reale Umsetzung in Klang noch angestrebt wird – Roman Haubenstock-Ramati, der den Begriff der „musikalischen Grafik“ prägte, initiierte 1959 in Donaueschingen eine Ausstellung von musikalischen Grafiken.

In den 1960ern dann erlebten die grafischen Partituren eine Blüte, mit Arbeiten etwa von Komponisten-Künstlern wie Sylvano Bussotti, Murray Schafer oder Leon Schidlowsky. John Cage gab das Buch Notations heraus, in dem viele Werke gesammelt sind. Es ist kein Zufall, dass in derselben Zeit in der Literatur ebenfalls das Auge die grafischen Eigenschaften vor allem von Lyrik (wieder)entdeckte und weiterentwickelte. Die Konkrete Poesie, die freilich viele Vorläufer hat, von den Hieroglyphen über die mittelalterlichen Initiale zu Christian Morgensterns kühnen Gedichten bis zu Apollinaires Poèmes à Lou, gestaltet Grafiken aus Wörtern. Jeder kennt aus dem Schulbuch Reinhard Döhls aus dem Wort „Apfel“ gezeichneten Apfel, der einen Wurm hat, oder Textgrafiken von Eugen Gomringer.

Die Geschichte der Konkreten Poesie gilt als ebenso abgeschlossene Epoche wie die der musikalischen Grafik der 1950er und 1960er Jahre. Nur vereinzelt und qualitativ wenig hinzufügend traten in den folgenden Jahrzehnten noch Arbeiten dieser Art hervor, zu nennen wäre Tom Johnsons „Imaginary Music“, die konzeptueller und minimalistischer ist als die Notenblätter der 50er und 60er, welche größtenteils mit der aberwitzigen Häufung von Notationselementen imponierten.

3.

Auf der anderen Seite sehen wir in der Geschichte der Bildenden Kunst die Affinität zur Musik von früh an. Abgesehen von Instrumentenfragmenten sind die ältesten uns überlieferten Zeugnisse von Musik die antiken Abbildungen musizierender und tanzender Menschen. Stillleben mit Musikinstrumenten und das private Musizieren sind ein typisches Sujet im Barock und Rokoko, im Kubismus sind es gerade Musikinstrumente, die in Einzelteile aufgelöst werden, als ob dem Betrachter nicht nur eine multiple Perspektive gegeben sei, sondern auch noch eine klingende Dimension hinzuträte.[3] Anders verfährt René Magritte, auf dessen erstem surrealistischen Bild der verlorene Jockey selbiger durch winterliche Bäume reitet, die aus ausgeschnittenen Noten gebildet wurden. Am Beginn der Magritte’schen Scheinwelten steht die Einbettung von Musik, die Verwirrung der Realität ist die Verwirrung der Sinne, das Bild erinnert nicht nur an eigene innere Traumbilder, sondern auch an eigene innere Musik. Hingegen war für Wassiliy Kandinsky Musik das Tor zur Abstraktion, denn Musik ist schon immer wesentlich ungegenständlicher als Bilder und Texte gewesen, und so ist es allzu verständlich, dass Kandinsky seine Gemälde Kompositionen und Improvisationen nennt; ein frühes, an der Grenze zur Abstraktion stehendes Bild ist unter dem Eindruck eines Konzertes mit Musik von Arnold Schönberg entstanden und man erkennt in den schmenhaften Flächen Flügel, Pianist und Publikum. Kandinsky entwickelte 1923 auch eine grafische Darstellung von Musik, indem er den Anfang von Beethovens Fünfter Symphonie in Punkte übersetzte. Paul Klee nannte 1921 ein Bild Fuge in rot, und seit 1926 zeichnete der Bauhaus-Schüler Karl Peter Röhl abstrakte Grafiken auf Notenpapier. In den beginnenden 1960er Jahren, das ist heute fast vergessen, waren es zunächst Musiker oder sich mit Musik beschäftigende Künstler, die die Konzeptkunst initiierten. Schon ihr Urvater, Marcel Duchamp, experimentierte mit Zufallsmusik, indem einzeln aufgeschriebene Noten aus einer Urne gezogen wurden. Daneben ist es John Cage, der durch seine intensive Tätigkeit als Komponist wie als Performancekünstler und Lehrender die Kunst seit den 1950ern entscheidend mitprägte. Schließlich entstand Anfang der Sechziger die Fluxus-Bewegung, an der ausgebildete Musiker wie Nam June Paik, Dick Higgins oder Henry Flynt maßgeblich Teil hatten; Flynt erfand den Begriff Concept Art. Doch wanderte die Konzeptkunst bald ab in die Bildende Kunst, wo ihre mediale Vielfalt konsequenter ausgelebt werden konnte. Mit der Entstehung der gattungsübergreifenden Klangkunst ab den 1970ern nehmen dann auch die musikalischen Grafiken von bildenden Künstlern stark zu. Bei ihnen ist das Interesse an der individuellen Handschrift der musikalischen Grafiken größer als bei Komponisten, denen es um die Etablierung eines neuen normativen Zeichenkanons ging. Nelson Goodman unterscheidet hier autographische künstlerische Handschrift von allographischer Notation, die normierbar und damit reproduzierbar ist und von der es kein Original gibt. Mitte der 1970er Jahre wenden sich einige bildende Künstler dem Grenzbereich zur Musik zu. Ab 1976 schafft der als Musiker ausgebildete Künstler Gerhard Rühm visuelle Musik, die auf den Interpreten verzichtet beziehungsweise dem Lesenden diese Rolle zuspricht. Neben Lesemusik, freien Zeichnungen auf Notenpapier mit oder ohne Instrumentenangaben, gibt es Notenüberzeichnungen, bei denen die Noten eines gedruckten Musikstückes mit Bleistift geschwärzt sind, so dass musikalische Dichteverläufe visuell hervorgehoben werden.

4.

Die Notationsarbeiten von Johannes Kreidler stehen in diesen Traditionen, wenngleich ihr Ansatz in mehreren Punkten neu ist. Wie keiner vor ihm (am ehesten noch der erwähnte Tom Johnson) arbeitet er minimalistisch, die Bildgestaltung ist auf wenige Elemente reduziert. Hinzu tritt dafür ein Titel, der explizit auf dem Bild steht. Kreidler orientiert sich formal am konventionellen Notendruck, bei dem der Titel oben in der Mitte firmiert, worunter die eigentlichen Noten folgen. Diese Sheet Music – Notationen sind unspielbar, ebenso wie die Grafiken der 1960er, die aus der Komplexität der Musik ‚überschwappten’ in eine visuelle Komplexität; bei Kreidler sind sie aber nicht darum nicht-spielbar, weil es so eine unmögliche Menge von Noten wäre oder die Konventionen der spielbaren Notation gesprengt würden, sondern weil schlichtweg essentielle Informationen ausgespart sind: Meist fehlen entweder Takt-, Rhythmus-, Lautstärke-, Tempo- oder Instrumentationsangaben, es wird zunächst weniger mit den Notationselementen gezeichnet als vielmehr die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die bereits vorhandene Visualität der Notationselemente gelenkt. Und diese sind, hier liegt die basale Pointe in Kreidlers Arbeiten, im Grunde elementare grafische Formen: Kreise, Rechtecke, Linien, nur mit der ihnen eigenen Bindung zur Musik. Ein Notenkopf ist ein etwas elliptisch verzogener Kreis, ein Notensystem ist ein mit fünf Linien schraffiertes Rechteck. Als grafische Elemente jedoch stehen sie so da, wie sie auch das reduktive Ziel des analytischen Kubismus waren, die Zerlegung einer Figur in geometrische Grundformen, und entsprechend entsteht ihre visuelle Wirkung, die Kandinsky in Punkt und Linie zur Fläche beschrieben hat. Eine Note auf fünf Linien. – wäre ein Violinschlüssel vorhanden, könnte man sie als g’’ identifizieren und spielen – sieht bei Kreidler nun aus wie ein Sonnenuntergang am Meer mit den typischen Lichtreflexionen auf den Wellen. Das Naturmotiv schlechthin geht aus den wenigen Informationen hervor, wenn der Titel zu dieser Assoziation lenkt. Man sieht nicht mehr eine Note, sondern ein Bild, und dennoch vibriert hier mit, dass etwa in der Musik des Impressionismus die Stimmungen des Meeres zu Tönen gedichtet wurden oder die Musique concrète das Meeresrauschen zur Musik erhob. Die leicht elliptische Verbiegung der Sonne integriert eine andere Sphäre ins Bild.

Solcherlei minimalistische Abbildung ist eine Strategie bei Kreidler. Sie begegnet uns in Bildern wie Sunset, 4 dead Soldiers, Footprint oder Rear Window. Eine andere ist die, mit abstrakteren Bezügen zu arbeiten, wenn Titel und Noten in einem freieren, assoziativeren oder sogar spannungsgeladenen, wenn nicht absurden Verhältnis zueinander stehen. Der Titel verweist nicht auf einen Gegenstand, sondern auf eine Gegebenheit, eine Szene, eine Stimmung. Im Stück I knew it sehen wir eine Art surreales Ensemble, bei dem die verwendeten Zeichen, Viertelnoten beziehungsweise nur ihre Notenköpfe, eine Fermate, ein Violinschlüssel in der Mitte der Notenlinien, die wiederum vorne und hinten auf eine Linie reduziert sind. Die Anordnung nimmt eine Rätselhaftigkeit an, die zu vielerlei Interpretation einlädt, letztlich ist es aber ein enigmatisches Bild. Vielleicht müsste man es hören..!

Wiederum andere Bilder sind näher an den musikalischen Implikationen der Notationszeichen angelegt, wobei jeweils durch einen besonderen Dreh keine wirkliche Musik damit möglich ist. Die mit Light betitelte Arbeit zeigt einen riesigen Akkord, der mit einem Trillerzeichen versehen ist. Ein Triller ist eigentlich eine Verzierung und steht für Leichtigkeit, eine einzelne Note wird durch eine Umspielung melodisiert, beweglich gemacht, ohne ihre stehende Wirkung zu verlieren. Einen Triller für einen gewaltigen Akkord jedoch gibt es in der Musik praktisch nicht, es gäbe ein Knäuel, einen Cluster von Tönen, die man kaum noch mit Leichtigkeit in Verbindung bringen würde, ebenso wie dann das Bewegungsmoment so stark würde, dass von dem statischen Charakter eines Einzeltons nichts mehr übrigbliebe. Zudem ist das Stück klar mit einem Anfang (dem initialen Violinschlüssel) und einem Ende (Doppelstrich rechts) deklariert, aber kein Musikstück würde nur aus einer einzigen Verzierungsaktion bestehen. Der Titel Light nun gibt uns Hinweis auf eine Deutung: (Weißes) Licht enthält sämtliche Farbfrequenzen, sein akustisches Pendant ist das Weiße Rauschen; Weißes Rauschen wird auf elektronischem Wege durch eine chaotisch induzierte Vibration der Lautsprechermembran erzeugt. Für einen Rauschgenerator braucht man keine Noten, aber würde man eine Notation von diesem synthetischen Vorgang in herkömmlicher, ‚klassischer’ Weise versuchen, dann wäre es eine gewitzte Weise, einen Akkord mit Triller zu schreiben. Kreidler spannt einen Bogen von physikalischem Licht, elektronischer Klangerzeugung und Notation für Instrumentalisten, wobei die Grenzen zwischen diesen Bereichen durch eine unorthodoxe Transkription dargestellt wie spielerisch überwunden werden.

Andere Pseudo-Musikstücke sind Depot, Effect, You, Memorial, Tristan Motive, altogether. Das Verfahren der Übertreibung kommt hier gelegentlich zur Anwendung, wobei diese immer auf einen bestimmten Parameter konzentriert ist: In Aura liegen zwei Noten vor, wobei die zweite der ersten angebunden ist. Statt dem einen eigentlich notwendigen Bindebogen schreibt Kreidler hingegen anderthalb Dutzend, womit ein Mehr an Wirkung dargestellt wird: Die Noten haben eine Ausstrahlung, die über die eigentlich korrekte Notationsweise hinausgeht. Beim Monster sehen wir eine Häufung von Noten, die an Malewitschs Quadrat erinnert, hier aber einen monströsen Akkord insinuiert, wie man ihn sich nur noch vorstellen kann.

Eine eigene Gruppe in den Leinwandarbeiten Kreidlers bilden die Referenzen zu Klassikern der Kunstgeschichte. L’Origin du Monde, die freigelegte Frauenscham von Gustave Courbet, reduziert er piktogrammatisch auf einen symmetrisch platzierten Akkord zwischen zwei Notensystemen, worüber emblematisch ein B-Vorzeichen angebracht ist. Nur durch die Titelnennung erkennt man den Bezug, dann wird die Abstraktion als Abstraktion-von kenntlich. Das Verfahren erinnert an Ellsworth Kellys Arbeitsweise, konkrete fotografische oder bildnerische Vorlagen auf zweidimensionale Farbflächen zu reduzieren, die abstrakt oder figürlich betrachtet werden können. Das gilt im Grunde auch für alle Arbeiten Kreidlers; durch die extreme Vereinfachung stehen die Bilder an der Kippe zur Abstraktion – an dieser Stelle tritt der Titel hinzu, der über ein konkretes Verständnis oder eine Stimmung, eine abstrakte Wirkung oder ein vages Etwas entscheidet. In diesem Fall nun wird die pornografische Wirkung auf ihre banale Symmetrie gebracht, das dunkle Feld zu einem Akkord in Viertelnoten, der bei Courbet bereits nur als Rumpf vorhandene Oberkörper nochmals reduziert zu einem lapidaren B-Vorzeichen, während die gespreizten Beine durch zwei Fünfliniensysteme zum gänzlich zweidimensionalen Rechteck auseinandergezogen sind. Neu hinzu tritt ein Violinschlüssel (Frauenkörper?) und ein Schluss-Doppelstrich, der abermals eine Verkürzung bedeutet. Mehr als dieser Akkord ist es nicht. Aber es ist nicht mehr nur ein Bild, sondern auch ein klingender Akkord, der vertikal symmetrisch ist (Terzschichtung), was allerdings durch den Violinschlüssel und das nicht eindeutig zuzuordnende Vorzeichen-B in Zweifel gezogen wird. Hier bekommt die Medientransformation eine kritische ‚Note’, das Bezugssystem schafft inneren Widerstand.

Ein anderes berühmtes Gemälde, das Kreidler in seiner Weise aufgreift, ist da Vincis Abendmahl (das sich auch Warhol als letzte Arbeit aneignete). Hier wird Kreidler etwas detaillierter, wenn er die Tafelszene durch dreizehn Noten in einem Fünfliniensystem auf die visuelle Grundstruktur von da Vincis Wandbild bringt. Jesus ist deutlich herausgehoben als einzige weiße Note, und mit dem musikalischen Kreuz-Vorzeichen ist, ganz in Bach’scher Tradition, die Passion angedeutet. Der Verräter ist rechts (anders als bei da Vinci, dort sitzt er links inmitten der Jünger) mit dem Vorzeichen-B markiert. Musikalisch ergäbe das eine Repetition mit einer längeren Note in der Mitte; diese ist drei Viertel lang, was als Dreieinigkeitssymbol deutbar wäre (tatsächlich galt seit dem Mittelalter bis zur Renaissance der Dreivierteltakt als das ‚göttliche’ Metrum). Bei Judas Ischariot wird die Repetition abgesenkt, während die Jesusnote durch das Kreuz musikalisch eine Erhöhung erfährt. Wiederum visuell lässt das Kreuz an die Dornenkrone denken, das B bei Judas an das Geldsäckchen, während die unausgefüllte Halbe-Note von Jesus auch einen Heiligenschein evoziert, die Punktierung der Note eine Betonung, vielleicht eine Art Sprechblase oder die Hostie andeutet. Wiederum musikalisch würde die Repetition ein Tremolo-Effekt erzeugen, „tremolare“ (italienisch) heißt „zittern“, wobei dann Jesus als lange Note Ruhe einbringt – wiederum eine mit minimalisten Mitteln übertragene Wirkung von da Vincis Gemälde, dessen Eigentümlichkeit gerade darin besteht, dass sich die Apostel für das Sujet ungewöhnlich aufgeregt verhalten. Kreidler übersetzt den bildnerischen Rhythmus in einen bildnerischen wie musikalischen Rhythmus.

Wiederum im Aura-Bild könnte man eine Entlehnung an van Goghs berühmte Sternennacht erkennen; die kräuselnden Auren, die da um die Sterne gemalt sind, überträgt Kreidler auf die Form musikalischer Bindebögen, die nun einen Schein um die Leerstelle zwischen zwei ganzen Noten bilden. Die Pinselschrift van Goghs erfährt ihre Formalisierung in standardisierten und gleichsam ins Übertriebene multiplizierten und ins radiale Extrem gezogenen Bögen. Die zwei Sterne bei Kreidler im Horizont der fünf Linien sind die Pole für eine auratische Erscheinung zwischen den Dingen, man meint seine eigenen Augen gespiegelt zu bekommen und in die unbesetze Mitte dieses Stereos zu blicken.

Neben den inhaltlichen Ideen sind es Strategien der Ästhetisierung, die Kreidler hierbei anwendet: Die minimalistische Heraushebung der gewöhnlichen Notationselemente besitzt einen Readymade-Charakter, schließlich könnten einige dieser festgehaltenen Momente theoretisch auch inmitten einer Beethoven-Sonate oder eines Songbooks auftreten. Solche Heraushebung funktioniert besonders durch die mediale Rahmung: Die Stücke werden auf Leinwand gedruckt und sind signierte Unikate, sie werden zum auratischen Tafelbild überhöht. Und in einer installativen Gruppenhängung kristallisiert sich der konzeptuell-stilistische Charakter der Arbeiten heraus, an der Wand hängen Klänge, eine ganze Playlist von geronnener Musik, um Marx’ Warenbezeichnung zu adaptieren. Dann erzählen die Bilder mitunter eine Geschichte, ein Musik-Comic, wie es Kreidler dann auch in Form von Filmen und Slideshows in die „time domain“ überträgt.

Es ist konsequent, dass die Arbeit an einer medialen Schnittstelle sich in verschiedenen Medien realisiert. Nach den Notationsminiaturen auf Leinwand, dem Notendruck entlehnt, hat Kreidler auch vorhandene Fotos mit Notenelementen bestückt. Als Vorlage dienen ihm in der Regel alte Urlaubsfotos von einem Laienfotografen, seinem Vater. Wiederum werden verschiedene Methoden erkennbar, wie die hinzugefügten Noten in Beziehung zu dem fotografischen Untergrund treten. Mal sind durch Ähnlichkeit und Nähe Akkorde als abstrahierte Menschenkörper oder Pflanzen erkennbar, oder die Notenlinien als Wäscheleinen zwischen den Fenstern eines Hinterhofgebäudes. In anderen Fällen bleibt es rätselhafter, ob die Note mit Fermate im Meer nun die untergehende Sonne (es ist aber noch hell) darstellt, oder einen versunkenen Gegenstand oder nur eine unbestimmte Assoziation, die mit dem andächtigen Blick aufs Meer entsteht, oder der Akkord in der Kirche einen mächtigen Orgelklang andeutet oder ob er sich architektonisch in die Säulen und Wölbungen eingliedert. Beim Foto eines Skifunfalls denkt man sofort, die Noten beschrieben das Malheur, aber eigentlich ist ihnen überhaupt kein Informationswert zu entnehmen.

Zuletzt seien noch die Filmarbeiten erwähnt, in denen die Notationen die Form von Untertitel (für Taubstumme?) haben, welche Ereignisse oder Situationen quasi in Musikschrift übersetzen. Ereignisse sind in der Zeit ablaufende Momente, die nicht voraussehbar sind oder zumindest eine Abwechslung erzeugen, dem dann eine Notation beigefügt wird – Kreidler nutzt den Effekt der Gleichzeitigkeit, mit der die menschliche Wahrnehmung unweigerlich das eine mit dem anderen assoziiert; dann kommt das ganze, oben beschriebene Repertoire der Sheet Music zum Einsatz, um zu kommentieren, eine zweite Ebene einzufügen, zu ironisieren oder einen Ernst zu geben, bildnerische Addition zu erzeugen und den textlichen Entzug zu kompensieren, den Kreidler dadurch erzeugt, dass er die Tonspur des Found-Footage-Materials weglässt.

All das – Leinwanddrucke, Fotoprints, Filme und Performances wird wiederum Material für Installationen und Theaterarbeiten. Die Stücke sind einzeln abgeschlossene wie auch Module für größere Konstellationen. Die immanente Polymedialität legt im Keim an, das Ganze nach außen immer zu erweitern. Für Kreidler ist die Sheet Music eine Stilistik, die zu einem großen Projekt gewachsen ist und weitere Ausformungen hervorbringen wird.

5.

Wie viel Vorwissen benötigen wir, was für einen Background braucht es, wenn wir solche Bilder rezipieren? Zunächst haben sie ihre direkte ästhetische Wirkung, unmittelbare Schönheit scheint aus den Arbeiten hervor. Um jedoch gerade die musikalische Dimension zu erfahren, sollte man ein bisschen Noten lesen können, mindestens ihren auf Musik verweisenden Charakter spüren, auch wenn sie nicht klingen. Nun ist Notenlesen heute keine Selbstverständlichkeit mehr, wenn nicht ein bildungsbürgerliches Relikt. Doch gerade in Zeiten der digitalen Verflüchtigung von Musik auf kleine Speicherchips ereignet sich eine Renaissance des Notendrucks, wenn beispielsweise der Musiker Beck sein neues Album gar nicht mehr auf CD herausbringt, sondern nur als Songbook, mit dem Effekt, dass die Fans die Musik spielen und ihre Versionen, ihre eigenen Interpretationen auf YouTube hochladen. Wenn Musik allverfügbar ist, wird ihre Codierung, etwa in Form von Noten, wieder interessant.

Aber selbst wenn einem die Noten nicht geläufig sind, ist es gerade dieses Moment des Fremden, Auratischen, Abstrakten oder Kryptischen, das hier eine Wirkung entfaltet. Allgemein ist eine Innovation ein Akt der Verknüpfung von bislang nicht Verbundenem. Es ist evident, dass in den Kreidler’schen Bildern etwas zusammengefunden hat, was so bislang nicht gesehen wurde, und die Verknüpfung erzeugt eine Spannung, die aus den Objekten strahlt. Ob wir das dann eine visuelle, musikalische oder rein gedankliche Wirkung nennen, ist nicht erheblich, oder insofern sehr erheblich, dass es zeigt, wie multimedial, synästhetisch die menschliche Wahrnehmung immer ist, auch wenn der vorliegende Gegenstand einem spezifischen Medium angehört. Trotz oder gerade aufgrund des äußerlichen Minimalismus’ dieser Bilder geraten wir in einen Wahrnehmungsstrudel, der letztlich an der Gewissheit von Wahrnehmung selbst rüttelt. Aber sehen, lesen, hören Sie selbst.



[1] George Brecht im Gespräch mit Henry Martin (1967), in: Jenseits von Ereignissen. Texte zu einer Heterospektive von George Brecht, AusstellungsKatalog Bern 1978, S. 144f.
[2] M. DuMont Verlag Köln
[3] Unbewusst gibt es hier noch eine andere Referenz: Die Hl. Cäcilie von Raffael, die Instrumente zerstört hat.